linketheorie - Der Podcast
Wir reden über den Kapitalismus, was an ihm schlecht ist und wie er alle Bereiche unseres Lebens beeinflusst. Wir sprechen darüber, wie wir die Welt um uns herum besser verstehen können und wie sie veränderbar ist. Dabei arbeiten wir linke Theorien und Argumente verständlich für alle auf – egal ob ihr schon Vorwissen habt oder erst neu einsteigt. Podcast der Seite »linketheorie« auf Instagram, Twitter und TikTok. Mit einem Abo auf Patreon könnt ihr unsere Arbeit unterstützen und erhaltet zusätzlich Zugriff auf Bonusfolgen und Recherchedokumente. Danke!
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Ep. #17 | Wie sprechen wir über globale Verhältnisse? (Lexikon: Globaler Süden, Dritter Welt, Peripherie und Entwicklungsländer)
Es geht weiter mit unserem linken Audio-Lexikon, wo wir Euch Begriffe vorstellen, die Linke, Sozialist*innen, Marxist*innen und Co. häufig verwenden. Heute geht es um die Begriffe "Entwicklungsländer", "Globaler Süden", "Dritte Welt" und "Peripherie".
Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wenn euch etwas fehlt, ihr Kritik, Anregungen oder auch Lob loswerden wollt, schreibt uns gerne unter linketheorie@proton.me.
Wir gehören keiner politischen Organisation an und erhalten auch keine Förderung, sondern arbeiten komplett unabhängig und ehrenamtlich neben Arbeit, Studium und unserem politischen Engagement. Deshalb freuen wir uns über jede kleine Unterstützung bei patreon.com/linketheorie oder unter ko-fi.com/linketheorie. Danke!
Hier findet ihr unsere Transkripte zu den einzelnen Folgen.
Weiterlesen:
Amin: Unequal Development: An Essay on the Social Formations of Peripheral Capitalism.
Castro Varela/Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung.
Dinkel: „Dritte Welt“ – Geschichte und Semantiken.
Escobar: Encountering Development.
Hurtienne: Peripherer Kapitalismus und autozentrierte Entwicklung
Pahuja: Decolonizing International Law. Appendix one: a note on the use of ‘Third World’.Prebisch: Die lateinamerikanische Peripherie im globalen System des Kapitalismus.
Rahman: Abhängiger Extraktivismus
Rodney: How Europe Underdeveloped Africa.
Sauvy: Trois mondes, une planète.
Senghaas: Peripherer Kapitalismus.
Ziai: Postkoloniale Perspektiven auf ‚Entwicklung‘.
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Ep.#17 – Wie sprechen wir über globale Verhältnisse? (Lexikon: Globaler Süden, Dritte Welt, Peripherie und Entwicklunsgländer)
Anmerkung: im Podcast unterhalten sich zwei Personen. Diese werden nachfolgend als (L) und (Y) bezeichnet.
- Musik wird eingespielt –
(L) Hallo und willkommen zu einer neuen Folge von linketheorie, dem Podcast wo wir über den Kapitalismus reden, was an ihm schlecht ist und wie wir ihn überwinden können. Wer uns vielleicht das ein oder andere Mal gehört hat, oder auf Instagram folgt, der oder die kennt uns schon. Ich bin Lea und benutze nicht-männliche Pronomen.
(Y) Und ich bin Yannic und benutze männliche Pronomen. Hi auch von meiner Seite. Wir machen heute das zweite Mal unser neues Lexikonformat. Dabei geht es aber nicht nur um einen Begriff, sondern gleich um mehrere. Und zwar reden wir heute über die Begriffe Entwicklungsland, globaler Süden, dritte Welt und Peripherie. Die Begriffe werden alle meistens für eine ähnliche Gruppe von Ländern benutzt, aber trotzdem hat jeder Begriff eine unterschiedliche Bedeutung und eine unterschiedliche Geschichte.
(L) Aber ich muss euch enttäuschen, eins vorab: ihr werdet in diesem Podcast keine Handreichung bekommen, also welcher Begriff jetzt der perfekte unumstrittene Begriff ist, den ihr problemlos verwenden könnt. Das ist keine Entscheidung, die wir treffen, oder treffen wollen, wir sehen das eher als einen Prozess, der vor allem von den Menschen in den nicht westlichen Teilen der Erde entschieden werden wird. Wir wollen euch aber trotzdem ein bisschen Orientierung geben und stellen euch deshalb diese sehr oft verwendeten Begriffe vor und erklären euch die Kritik, die zum Beispiel aus antikolonialer Perspektive daran geübt werden kann und wird.
(Y) An der Stelle auch nochmal der Hinweis unser Podcast bedeutet ihr viel Arbeit für uns und weil wir das zu zweit unabhängig auf die Beine stellen, freuen wir uns immer mega über Unterstützung von euch. In unserer Beschreibung findet ihr dann zum Beispiel einen ko-fi Link, wo ihr uns einen symbolischen Kaffee ausgeben könnt. Ihr könnt uns natürlich auch ohne Geld unterstützen, indem ihr uns zum Beispiel mit fünf Sternen bewertet, oder euren Freund*innen und der Familie empfehlt, am Tisch. Wir freuen uns da wirklich sehr drüber und sagen jetzt schon mal danke.
(L) Jetzt geht es aber wirklich los. Wir haben gerade schon angemerkt, dass es nicht den einen perfekten Begriff gibt, aber vielleicht erstmal: wieso brauchen wir überhaupt einen Begriff? Sind wir nicht heutzutage eine Welt?
(Y) Ja, wenn man damit sagen will, dass wir auf demselben Planet leben, dann stimmt das vielleicht gerade noch so und es wäre auch echt super, wenn es hier allen gleich gut gehen würde und wir gar keine Unterschiede wirklich hätten. Aber die Realität ist leider ein bisschen anders, weil es einfach materielle Unterschiede gibt. Ausbeutungsverhältnisse und Diskriminierung. Und deshalb können wir eben nicht auf so Begriffe verzichten, die auf eine Unterscheidung in der Welt hindeuten, die da ist. Das ist genauso sinnlos, wie wenn manche Menschen sagen, dass sie keine Farben sehen und dass für sie alle Menschen gleich sind. Das mag für die Person vielleicht stimmen, aber in der Realität gibt es einfach Rassismus, es gibt Imperialismus, es gibt Neokolonialismus und so weiter. Und wenn wir sagen, wir sind alle gleich, leugnen und verwischen wir genau diese Unterschiede und genau diese Machtverhältnisse. Wir sollten natürlich alle gleich behandelt werden, aber die Realität ist eben eine andere und diese Realität müssen wir dann benennen können.
(L) Okay, das macht Sinn, aber damit geht ja auch schon wieder der Anspruch einher, dass der Begriff, den wir dann finden auch die Ungleichheiten, Machtverhältnisse, Ausbeutungsbeziehungen, alles was du gerade gesagt hast, einfach das global besteht, dass dieser Begriff das dann auch tatsächlich benennen kann.
(Y) Genau und da liegt eigentlich auch schon die Schwierigkeit. Der Begriff muss nämlich verschiedene Anforderungen eigentlich erfüllen. Also der Begriff muss einerseits natürlich eine breite und in sich auch schon wieder unterschiedliche Ländergruppe umfassen und andererseits die globalen Ungleichheitsstrukturen, die heute einfach existieren, sollte er widerspiegeln und nicht verfälschen. Und darüber hinaus sollte er natürlich auch nochmal nicht diskriminierend sein.
(L) Das ist wirklich ein großer Anspruch an den Begriff, ich bin mir sicher, dass es da auch keinen perfekten gibt. Also zuerst hätte ich jetzt an die Ausdrücke ehemalig kolonisierte Staaten oder ausgebeutete Staaten denken müssen.
(Y) Ja und genau da haben wir eigentlich schon erste Probleme. Weil wenn wir zum Beispiel von ehemals kolonisierten Staaten sprechen, oder von ausgebeuteten Staaten, dann umfasst das ja auch nicht das, was zum Beispiel andere Begriffe wie „globaler Süden“ umfassen. Es gibt immer noch kolonisierte Teile der Welt und es gibt Staaten, die man nicht mehr als nur noch ausgebeutete Staaten bezeichnen kann, wie zum Beispiel China. Die aber trotzdem nicht zu dem gehören, was wir meistens als Westen bezeichnen und die teils oder ganz kolonisiert waren.
(L) Um wirklich platziert zu sein, dürfte ich ja eigentlich gar keinen Sammelbegriff benutzen und müsste eigentlich immer alle Länder listenartig aufzählen, die ich meine, aber das ist sehr dann auch wieder kaum möglich, wenn es um eine große Gruppe geht.
(Y) Naja, wenn es eben um eine Gruppe geht, wie die ehemals kolonisierten Staaten und wir vielleicht sowieso über die Ungleichheiten sprechen, die seit dem Kolonialismus gewachsen sind, dann ist das auf jeden Fall der richtige Begriff. Ich persönlich versuche auch immer den Begriff zu finden, der für das, was ich sagen will, der passendste ist. Trotzdem gibt es einzelne Momente, in denen wir einfach Begriffe brauchen, für alle Staaten, die eben nicht das sind, was wir Westen nennen und die heute von dem Westen auch imperialistisch ausgebeutet werden.
(L) Ja und genau deshalb gehen wir jetzt auf die vier häufigsten Ausdrücke ein, die man mit dieser Ländergruppe umfassen kann. Und wir beginnen am besten mit dem Begriff der Entwicklungsländer, ich denke, dass das der Begriff ist, dem wir wahrscheinlich alle schon mal über den Weg gelaufen sind.
(Y) Ja das ist ja auch bisschen der typische Begriff, der in Politik und Wirtschaft ganz gern verwendet wird.
(L) Genau, der Begriff gilt heute als besonders neutral, also er scheint nicht wertend zu sein, weil er eine Kategorie nennt, die einen wirtschaftlichen Entwicklungsstand beschreibt. Abgegrenzt werden diese Entwicklungsländer dann von den Industrieländern, also Ländern, die sich in einem fortgeschrittenen Stadium der kapitalistischen Entwicklung befinden. Und dann gibt es noch die Schwellenländer, also Länder wie Indien oder Brasilien, die sich eben an der sogenannten Schwelle zwischen Entwicklungs- und Industrieländern befinden.
(Y) Das scheint eigentlich alles erstmal so als würden wir einfach einen Zustand beschreiben und zwar ohne Vorannahmen und komplett neutral.
(L) Ja, das ist genau die Begründung für den Begriff. Wir und viele andere würden diesen Begriff aber kritisieren, weil dahinter eben eine ganz bestimmte Logik steckt, die eigentlich nicht der Realität entspricht.
(Y) Ja und zwar steckt dahinter die Idee, dass jedes Land einfach die gleichen Entwicklungsstufen durchmacht, die die westlichen Länder vorgemacht haben. Das gibt dann nicht nur vor, als wäre der einzig mögliche Entwicklungsweg, eine kapitalistische Entwicklung, so wie sie der Westen gemacht hat, sondern blendet darüber hinaus auch noch aus, dass die Voraussetzung vor denen diese westlichen kapitalistischen Staaten sich entwickelt haben, diese Voraussetzungen, die waren ganz andere als diejenigen, vor denen die ärmeren Staaten heute stehen.
(L) Eben. Der Punkt ist, dass diese westlichen Staaten sich nämlich entwickelt haben, indem sie nicht nur Arbeitende in ihren eigenen Ländern enorm ausgebeutet haben, sondern auch weil sie so ziemlich die ganze Welt kolonisiert haben. Sie haben Arbeit und Ressourcen von anderen Teilen der Welt ausgebeutet und diesen erbeuteten Reichtum haben sie dann in ihre Länder gebracht und das war im Grunde die Entwicklung, die die imperialistischen Staaten durchgemacht haben.
(Y) Ja und diesen „Vorteil“ haben die Staaten, die heute arm sind, nicht. Die können sich nämlich nicht einfach auf die Kosten anderer entwickeln und sie haben sogar noch mal viel schlechtere Voraussetzungen. Sie sind nämlich oft noch wirtschaftlich abhängig von den imperialistischen Staaten. Es bleibt also die Frage offen, inwiefern sie überhaupt die Möglichkeit haben, sich tatsächlich zu entwickeln.
(L) Man kann also nicht wirklich von einer unabhängigen Entwicklung sprechen und deshalb sind diese Bezeichnungen als Entwicklungsländer – oder was auch oft genommen wird: sich entwickelnde Länder – die sind einfach nicht passend, weil sie genau diese unterschiedlichen Voraussetzungen für Entwicklung vertuschen und damit auch die Ungleichheit, die heute besteht, entpolitisieren.
(Y) Und man kann ja eigentlich auch nicht nur von ungleichen Voraussetzungen sprechen, weil hinter der Armut von vielen Staaten nämlich – wie du vorhin schon gesagt hast – die Ausbeutung durch reichere Staaten steckt. Der panafrikanische Historiker und Politiker Walter Rodney sagt, dass man von einer Unterentwicklung der ärmeren Staaten durch die imperialistischen Staaten sprechen kann. Also er versteht Unterentwicklung eher als eine aktive Tat durch die imperialistischen Staaten und nicht als einen zufälliger Zustand, in dem die ärmeren Staaten jetzt plötzlich gelandet sind.
(L) Mal zusammengefasst kann man also sagen, dass der Begriff der Entwicklungsländer globale Ungleichheits- und Ausbeutungsbeziehungen verwischt und stattdessen vorgibt, dass es gleiche Voraussetzungen für Entwicklung gäbe. Der Begriff entpolitisiert damit einen eigentlich ziemlich politischen Zusammenhang und deshalb sind wir und viele der andere der Meinung, dass wir einen anderen Begriff brauchen. Was gibt es denn noch für andere Begriffe?
(Y) Ein anderer Begriff, den wir noch in unserer Schublade haben, ist der von der dritten Welt. Und den hat ganz ursprünglich, wenn wir mal in der Geschichte ein bisschen zurückgehen, der Franzose Alfred Sauvy eingebracht und zwar in der Zeit vom kalten Krieg. Da standen sich in der Welt ja einerseits der kapitalistische Westen und der sozialistische Osten gegenüber. Und Sauvy hat dann die dritte Welt beschrieben und das waren für ihn die Länder, die eben nicht an den beiden Polen gegenüberstehen, sondern die nochmal eine dritte Gruppe bilden.
(L) Aber neben dieser Beschreibung von drei Welten hat Sauvy den Begriff auch parallel zu dem des sogenannten dritten Standes gedacht. Und die dritte Welt sollte jetzt quasi parallel zu diesem Bild des dritten Standes das darstellen, was die ausgebeutete oder die verarmte gesellschaftliche oder in dem Fall globale Gruppe ist.
(Y) Also können wir sagen, dass der Begriff der dritten Welt damit auch das globale Herrschaftsverhältnis abbilden sollte.
(L) Ja und genau indem er das tut, sollte er dann auch für die sogenannte dritte Welt ermächtigend wirken. Auf der anderen Seite sollte er der reichen Welt einen Spiegel vorhalten eben für diese Ungleichheit und Ausbeutung.
(Y) Also können wir sagen, dass damit eigentlich das Gegenteil erreicht werden sollte, wie beim Begriff Entwicklungsland, der ja – wir haben es vorhin gesagt – globale Ungleichheiten eher vertuscht und so ein bisschen vorgibt unpolitisch zu sein. Der Begriff der dritten Welt ist ja im Gegenteil dazu von vorne bis hinten eigentlich ein politischer. Er beschreibt nämlich ganz klar und offen ein politisches Machtverhältnis, das besteht.
(L) Und genau deshalb war der Begriff bei antikolonialen Bewegungen in der Zeit ja auch ziemlich weit verbreitet.
(Y) Genau, er wurde lange Zeit sogar als Selbstbezeichnung gewählt. Am eindrucksvollsten ist da wahrscheinlich die Bandung Konferenz 1955. Da haben sich damals schon unabhängige afrikanische und asiatische Staaten Vertreter*innen getroffen und haben die sofortige Unabhängigkeit aller Kolonien gefordert. Die Konferenz ist extrem bekannt, weil antikoloniale Bewegungen mit ihr eigentlich international so richtig sichtbar geworden sind und damit der Dekolonisierung dann eine komplett neue Dynamik nochmal gegeben wurde. Und genau bei dieser Konferenz haben die Anwesenden dann den Begriff der dritten Welt als Selbstbezeichnung für sich gewählt.
(L) Aber heute wird der Begriff ja nicht mehr so benutzt. Wieso?
(Y) Es war eben ein politischer Begriff und Politik verändert sich. Also der Hintergrund für den Begriff ist ja der kalte Krieg und die Welt, die damals polarisiert war, zwischen dem kapitalistischen Westen und dem sozialistischen Osten. Und nach dem Ende der Sowjetunion gab es diese zwei Blöcke nicht mehr in der Form und neben denen hat dann sowas wie ein dritter Block eben keinen Sinn mehr ergeben.
(L) Und was auch noch dazugekommen ist, ist dass Begriffe, die eine unterdrückte Gruppe beschreiben von der ausbeuten Klasse ja sehr gerne mal dann plötzlich herabwürdigend genutzt werden. Bei dem Begriff der dritten Welt war es dann auch irgendwann so und alles in allem war dann irgendwann einfach der Bedarf für einen neuen Begriff da. Und welcher das ist, das haben wir gehört, das ist der der Entwicklungsländer. Das ist heute der verbreitete Begriff.
(Y) Ich fass nochmal kurz zusammen. Der Begriff der dritten Welt sollte also einerseits die Gruppe der ehemals oder noch kolonisierten Länder als dritte Gruppe neben der kapitalistischen und sozialistischen Welt definieren. Andererseits sollte er auch ein Herrschaftsverhältnis widerspiegeln und wurde deshalb auch von antikolonialen Bewegungen dann verwendet.
(L) Manche antikoloniale Bewegungen nutzen den ja auch immer noch, auch weil der Begriff der Entwicklungsländer in mehreren Hinsichten der schlechtere ist. Aber es gibt noch zwei weitere Begriffe, über die wir sprechen wollen und die werden auch öfters in den heutigen post- und antikolonialen Theorien verwendet.
(Y) Ein anderer verbreiteter Begriff, den ihr bestimmt alle kennt, ist der vom globalen Süden. Und den globalen Süden stellt man da meistens dem globalen Norden gegenüber. Woher kommt denn der Begriff genau?
(L) Das erste Mal wurde dieser Begriff von der Weltbank geprägt.
(Y) Cool.
(L) Ja du sprichst es schon indirekt an. Ich find das erstmal ziemlich verdächtig, ehrlich gesagt. Die Weltbank hat ja immerhin einen großen Teil dazu geleistet, dass genau diese Länder heute wirklich enorme soziale Probleme haben. Also sie hat die sogenannten Strukturanpassungsprogramme angeleitet.
(Y) Ja, merkt euch übrigens kurz den Begriff unbedingt, wenn ihr euch für Armut oder soziale Probleme in vor allem Ländern vom globalen Süden interessiert. Die Strukturanpassungsprogramme sollten nämlich durch einen neoliberalen Schock die Wirtschaft der Länder ankurbeln. Und der Abbau von Sozialstaat, Arbeitsrechten und die vielen Privatisierungen, die kann man eigentlich nur als einen Ausverkauf von den Ländern an ausländische Investoren bezeichnen. Und die haben dann den Ländern eben keinen Wohlstand gebracht, sondern vor allem eine andauernde Abhängigkeit vom Ausland und an der Armut hat sich eigentlich überhaupt nichts verändert. Aber das nur nebenbei.
(L) Ja, das ist nochmal ein anderes Thema, aber mit dem Hintergrund versteht ihr vielleicht, wieso wird zumindest nicht annehmen können, dass so ein Begriff von der Weltbank irgendwie ermächtigen wirkt für diese Länder.
(Y) Aber gehen wir vielleicht nochmal kurz auf den Begriff selber ein. Der Ausgangspunkt war ja der verbreitete Begriff der Entwicklungsländer und eine Kritik daran ist, dass damit ein einziger Entwicklungspfad vorgegeben wird, der für alle möglich und notwendig scheint. Und der Begriff vom globalen Süden soll dagegen eben nicht auf so einen Entwicklungspfad mit dem Westen setzen, sondern er soll weder ökonomisch noch politisch sein, sondern so eine Einteilung von der Welt symbolisieren, die möglichst ohne Wertung ist.
(L) Du hast es vorhin schon angesprochen: der globale Süden grenzt sich dann ab von dem globalen Norden und das umfasst dann vor allem die Industriestaaten, oder das, was wir heute unter Westen verstehen. Also der Begriff klingt ja erstmal geografisch, aber eigentlich soll er das gar nicht sein. Also man wollte wirklich einen Begriff finden, der so neutral wie möglich ist, aber wenn man was in Begriffen einteilt, braucht man ja irgendeine Unterscheidung als Grundlage und da hat man dann eben einfach Norden und Süden genommen.
(Y) Ja und da sind wir eigentlich wieder bei dem Punkt vom Anfang. Wir brauchen Begriffe, wenn sie etwas aussagen, aber der Begriff vom globalen Süden sagt so wenig wie möglich aus. Also er teilt eine Gruppe ein, aber er sagt eigentlich nicht aus wonach er diese Gruppe genau einteilt.
(L) Ja und der Grund dafür ist, dass dem zugrunde eben ein Herrschaftsverhältnis, ein Ungleichheitsverhältnis liegt und das ist ja gerade die Grundlage für die Einteilung und nicht ein imaginärer Norden oder Süden. Aber indem dieser Begriff unpolitisch sein will, da haben wir wieder das gleiche Problem wie vorher. Damit vertuscht er die globalen Ausbeutungs- und Ungleichheitsbeziehungen. Klar, der Begriff ist nicht diskriminierend, das kann man sagen, das stimmt. Aber trotzdem kann man ihn problematisieren und deshalb braucht es uns auch nicht verwundern, dass die Weltbank den Begriff ins Spiel gebracht hat. Er hat eben überhaupt kein revolutionäres Potenzial.
(Y) Wir sind hier wieder beim „Ich sehe keinen Farben“-Problem von vorhin. Der Begriff drückt eine Gleichheit aus, aber dahinter steckt eigentlich eine enorme Ungleichheit.
(L) Nochmal auf den Punkt gebracht: der Begriff des globalen Südens versucht irgendwie undiskriminierend zu sein, indem möglichst keine politische oder wirtschaftliche Einteilung damit vorgenommen wird. Gleichzeitig geht damit aber dann unter, dass sich beim Unterschied zwischen dem sogenannten globalen Süden und dem globalen Norden, dass es sich dabei aber um eine wirklich tief politische Beziehung handelt. Eine Beziehung nämlich der Ausbeutung und Ungleichheit.
(Y) Ja, falls euch jetzt schon der Kopf dröhnt von den ganzen Begriffen, die wir hier rum schmeißen, schmeißt euch mal kurz eine Ibu rein, wir haben nämlich noch einen Begriff auf Lager. Und zwar den von der Peripherie. Woher kommt denn jetzt der Begriff, Lea?
(L) Ursprünglich geprägt wurde der Begriff vor allem von dem ägyptisch-französischen Politökonom Samir Amin. Der hat den Begriff aus seinen theoretischen Ansätzen entwickelt und eben damit eine Theorie des peripheren Kapitalismus aufgestellt. Also auch in der Dependenztheorie wird dieser Begriff verwendet, das sind jetzt erstmal gerade lauter Worte, die wir reinschmeißen. Aber falls jemand bisschen was versteht, gibt das uns vielleicht auch schon die erste Idee, in welche Richtung der Begriff geht. Weißt du, was ich meine?
(Y) Ja du meinst wahrscheinlich die Dependenztheorie. Und Dependenz heißt ja Abhängigkeit und die Theorie von der Dependenz, beschäftigt sich dann auch vor allem mit globalen Abhängigkeiten. der Begriff von der Peripherie soll genau das Aussagen und zwar, dass die Feldwirtschaft eingeteilt ist, in eins oder mehrere Zentren – also es sind die imperialistischen Staaten – und in eine Peripherie.
(L) Die Peripherie, die ist abhängig von den wirtschaftlichen Entwicklungen im Zentrum und kann sich selber nicht unabhängig entwickeln, in dieser globalen Konstellation. Der Begriff steht also für ein weltweites Abhängigkeitsverhältnis und ordnet die Staaten auch genau danach an, also das ist das Einteilungsmuster. Es ist also auch hier wieder ein politischer Begriff, aber auch ein ökonomischer Begriff.
(Y) Genau, der Begriff spiegelt so ein bisschen die Ordnung vom globalen Kapitalismus wider, weil genau so ist es ja. Also die industrialisierten Staaten – und an der Spitze der berühmte Demiurg, wenn ihr Marx gelesen habt – die geben den Ton vor und die Staaten der Peripherie müssen sich danach richten und sind ziemlich oft auch einfach ausgelagerte Produktionsstandorte für die Länder im Zentrum.
(L) So weit, so gut. Was vielleicht ein bisschen die Problematik ist, ist wenn wir nach diesem Ordnungsprinzip gehen, dann kann das alles schnell bisschen vereinheitlichend werden. Auf einer globalen Ebene kann man das ganz gut machen, gerade wenn man die ausgebeuteten ärmeren Staaten den imperialistischen Staaten gegenüberstellt, also das ,was wir ja gerade so ein bisschen diskutieren. Also wenn man das so in zwei Lager einteilt. Aber da das ja ein wirtschaftlicher Begriff ist, kann man den eigentlich auch auf anderen Ebenen nochmal verwenden. Also es gibt zum Beispiel auch innerhalb von Europa Zentren, wie Deutschland oder Frankreich und eine Peripherie, was dann vor allem die osteuropäischen Staaten sind. Das spricht auch jetzt insgesamt nicht gegen die Begriffe, aber das vielleicht einfach als Hintergrund, dass man das auf mehreren Ebenen anwenden kann, je nachdem, was man eben anschaut. Also ein Kontinent, oder auch innerhalb von einem Land, oder eben was wir heute machen, die ganze Welt. Wichtig ist dann nur, dass man vielleicht deutlich macht, um welche Peripherie und um welches Zentrum sich jetzt handelt.
(Y) Und dann ist auch noch schwierig, wenn wir jetzt nochmal auf die globale Ebene gehen, was wir mit Ländern wie Indien, Brasilien, China und Russland machen. Die werden ja oft als BRICS-Staaten genannt, die sind einerseits Peripherien, weil sie zum Beispiel billige Produktionsstandorte für kapitalistische Zentren sind. Andererseits haben sie aber auch nochmal eine eigene wirtschaftliche Dynamik und haben teilweise sogar eigene Peripherien.
(L) Manchmal stößt man da auf den Begriff der Semiperipherien oder Halbperipherien, weil sie eben – wie du gerade gesagt hast – weder eine vollkommene Peripherie noch allein Zentrum sind. Wenn es also wirklich genau sein soll, dann müsste diese Unterteilung noch rein.
(Y) Wenn es aber jetzt – wie bei uns gerade – um eine globale Ordnung geht, die Ausbeutungsbeziehungen beschreiben sollen, sind Zentrum und Peripherie ganz gut verwendbar, oder?
(L) Ja, also gerade wenn man eben globale Ungleichheiten und Ausbeutungsverhältnisse beschreibt, dann ist diese strukturelle Einteilung – Zentrum, Peripherie – wirklich hilfreich, einfach weil sie die Ordnung des globalen Kapitalismus ausdrückt. Aber – und das sind vielleicht ein bisschen die Grenzen des Begriffs – da dieser Begriff sehr auf eine wirtschaftliche Ebene, auf eine wirtschaftliche Ausbeutungsbeziehung fixiert ist, kann es sein, dass der Begriff zum Beispiel beim Reden über Rassismus einfach zu ökonomisch ist. Aber dann empfehle ich euch einfach immer Marx mit reinzubringen, politische Ökonomie in die Diskriminierungsthemen, dann könnt ihr den Begriff super nutzen. Kleiner Scherz.
(Y) Aber dann können wir euch enttäuschen, wir haben nämlich zum Schluss wieder nicht den perfekten Begriff gefunden. Aber trotzdem haben wir jetzt ein bisschen Orientierung, glaube ich.
(L) Ja, also erstmal können wir sagen, dass es zum Begriff der Entwicklungsländer eigentlich so gut wie in jedem Kontext eine bessere Alternative gibt. Was die anderen Begriffe angeht, ist die Haltung innerhalb verschiedener Strömungen und Bewegungen im anti- und postkolonialen Bereich, unterschiedlich. Antikoloniale Marxist*innen lehnen zum Beispiel den Begriff des globalen Südens auch ab, weil – wir hatten das angesprochen – der Begriff einfach unpolitisch ist und globale Ausbeutungsverhältnisse, die aber in der Realität bestehen, verwischt.
(Y) Dann bleiben wir uns noch die Begriffe dritte Welt und Peripherie.
(L) Beide Begriffe schreiben ja ganz klar ein globales Herrschaftsverhältnis. Der Begriff der dritten Welt ist aber ein bisschen veraltet und wird auch teilweise als diskriminierend empfunden. Deswegen ist glaube ich unser Stand aktuell, vor allem bei der Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie, je nach Kontext eben noch Semiperipherie, weil es einfach die Struktur unseres globalen kapitalistischen Systems ausdrückt.
(Y) Ja, aber auch da befinden wir uns in einem Prozess und wir haben ja schon gesagt, dass es sinnvoll ist, wenn es einen passenderen Begriff gibt, den zu nutzen. Also wir haben ja im Podcast auch öfter die Begriffe kolonisierte oder ehemals kolonisierte Länder genommen, oder ausgebeutete Länder usw.
(L) Genau, aber das soll euch jetzt gar nicht weiter verwirren. Der Podcast sollte euch einfach verschiedene Begriffe zeigen und das soll euch auch nicht unter Druck setzen, sondern vor allem dabei helfen euch einfach ein bisschen zu orientieren und ein Verständnis für verschiedene Begriffe und ihre Bedeutung zu bekommen.
(Y) Gebt uns gerne Bescheid, falls wir irgendwas Wichtiges vergessen haben, oder wenn ihr Anregungen oder Fragen an uns habt. Danke auch an alle, die immer noch zuhören, wir freuen uns auf die nächste Folge.
(L) Und wir Christen heute Samir Amin, der vor 4 Jahren leider gestorben ist und ohne den der weltweiten linken Bewegungen eine wichtige antikoloniale Stimme fehlt.
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